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Baustelle:Funktion
Übersicht [1].
Der mit „Funktion“ bezeichnete Begriff nimmt in der Mathematik die zentrale Stellung eines nicht mehr weg zu denkenden Grundbegriffs ein. Erstaunlicherweise trifft man derzeit auf unterschiedliche und kaum vereinbare Sprech- bzw. Schreibweisen wie z. B.:
- „die Funktion ”, „die Funktion “, „die Funktion “, „die Funktion “, „die Funktion “,
- weiterhin z. B.: „der Weg ist eine Funktion der Zeit“ – es wird eine Parabel als „quadratische Funktion“ bezeichnet – es wird eine Wertetabelle als „Funktion“ bezeichnet – ...
Strengen formalen Ansprüchen hält nur die Formulierung „die Funktion “ stand, mit Abstrichen auch noch „die Funktion “. Somit scheint es kein einheitliches Begriffsverständnis dessen zu geben, was eine „Funktion“ ist. Dieser Verdacht wird genährt, wenn man berücksichtigt, dass z. B. (auch in der Mathematik) in zunehmendem Maße (wieder!) von „Funktionen mit mehreren Veränderlichen“ gesprochen wird (etwa bei Titeln von Lehrbüchern oder von Vorlesungen) – und dabei hat eine Funktion in strenger Begriffsauffassung (als rechtseindeutige Relation) gar keine Veränderlichen (korrekt wäre hier: „einstellige“ bzw. „mehrstellige“ Funktionen). Diese Sprechweise weist aber darauf hin, dass solche Autoren neuerdings Funktionen wieder als Terme auffassen, also der Sprechweise „die Funktion “ zuneigen – wie es bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts üblich war. Spürt man dem in Gesprächen mit Mathematikern nach, so wird diese Vermutung insofern bestätigt, als dass das, was für sie eine Funktion ist, von dem Kontext abhängt, in dem sie forschend tätig sind:
Beispielsweise sind für viele Numeriker (kontextbezogen nachvollziehbar) „Funktion“ und „Tabelle“ Synonyme, oder sie identifizieren (ebenfalls kontextbezogen nachvollziehbar) „Funktion“ mit „Term“. Und man findet (z. B. in der Analysis) die Auffassung, Funktionen seien spezielle Abbildungen, und zwar von in . „Abbildung“ ist dann lediglich eine „eindeutige Zuordnung“ im Sinne eines undefinierten und unmittelbar einleuchtenden Grundbegriffs, womit dann „Funktion“ und „Abbildung“ – im Gegensatz zur mengentheoretisch begründeten Auffassung – z. T. nicht identifiziert werden. Für Zahlentheoretiker sind Funktionen oft nur Abbildungen von in oder in , weil sie im Wesentlichen nur solche Funktionen untersuchen. Und die Bezeichnung „Funktionentheorie“ ist mitnichten eine „Theorie der Funktionen“ im Sinne der Auffassung von „Funktion als rechtseindeutiger Relation“. Vielmehr verweist diese Bezeichnung auf ein historisches Verständnis von „Funktion“.
Physiker nennen z. B. die Gleichung eine „Weg-Zeit-Funktion“, obwohl hier die Variable in zwei formal unterschiedlichen und unvereinbaren Rollen auftritt. Andererseits kommt in dieser Formulierung eine sehr schöne und inhaltlich sehr reichhaltige Auffassung zum Ausdruck, die in einer formal einwandfreien (und dann auch aufgeblähten!) Darstellung verloren gehen würde. Physiker werden es sich auch nicht nehmen lassen, als „Wellenfunktion“ zu bezeichnen und beispielsweise die für sie schöne Formulierung verwenden, um damit auszudrücken, dass die „Spannung eine Funktion der Zeit“ sei. Zusammengefasst: Im physikalischen Kontext ist eine solche Sichtweise von „Funktion“ nicht nur nachvollziehbar, sondern gewiss auch sinnvoll und situationsadäquat, im rein mathematischen Kontext ist sie aber kaum tragbar – und beide Standpunkte haben ihre Berechtigung.
So scheint es in der Mathematik, diesem Prototyp der exakten Wissenschaften, keine einheitliche Auffassung dessen zu geben, was eine Funktion ist. Das lässt sich sowohl durch individuelle Umfragen als auch durch einen Blick in die aktuelle Lehrbuchliteratur belegen. Und dennoch bezeichnet „Funktion“ einen wesentlichen Grundbegriff der Mathematik, der in nahezu allen Teilgebieten und auch in den Anwendungen der Mathematik vorkommt, und zwar gerade wegen dieser Uneinheitlichkeit! Genauer:
Der mit „Funktion“ bezeichnete Begriff weist u. a. wegen der hier skizzierten Vagheit eine große Reichhaltigkeit auf, wie es für fundamentale Ideen der Mathematik typisch ist. Zugleich weisen die oben angedeuteten Formulierungen, die einen unterschiedlichen Gebrauch des Wortes „Funktion“ aufzeigen, auf einen gemeinsamen Kern von Eigenschaften hin, die den mit „Funktion“ bezeichneten mathematischen Begriff ausmachen, so dass gilt:
- Funktionen haben viele Gesichter, in denen sie uns begegnen. [2]
Zur kulturhistorischen Begriffsgenese [3]
Wo liegen die kulturhistorischen Wurzeln des mathematischen Funktionsbegriffs, und wie hat dieser sich Laufe der Geschichte der Mathematik entwickelt? Dieser Aspekt ist auch für die ontogenetische Entwicklung eines Begriffs im Individuum bedeutsam. [4] Dabei geht es nicht darum, wann und unter welchen Bedingungen das Wort „Funktion” in der Mathematik auftauchte (was schnell auf Leibniz und Jakob I Bernoulli führen würde, jedoch nicht weiterhilft). Vielmehr geht es um die mit dem Funktionsbegriff intendierten Inhalte (Unterscheidung zwischen dem Begriffsnamen und dem Begriffsinhalt). Diese Inhalte findet man anhand der oben angedeuteten
Erscheinungsformen von Funktionen in Gestalt „vieler Gesichter“:
- eindeutige Zuordnung
- Abhängigkeit einer Größe (als einer „abhängigen Variablen“) von einer anderen (als einer „unabhängigen Variablen“), speziell auch zeitabhängige Größen
- (Werte-)Tabelle, insbesondere auch empirische Wertetabelle
- Kurve, Graph, Datendiagramm, Funktionsplot
- Formel
- ...?
Legt man diese offen gehaltene Liste zugrunde, so begegnet man dem Funktionsbegriff erstmalig in Tabellen bei den Babyloniern im 19. Jh. v. Chr., und es ergibt sich folgende grobe Zeittafel:
- Stationen der kulturhistorischen Entwicklung des Funktionsbegriffs [5]
19. Jh. v. Chr. | • Babylonier: Tabellierung von Funktionen |
ab 5. Jh. v. Chr. | • griechische Antike: kinematisch erzeugte Kurven |
ca. 950 v. Chr. | • Klosterschule: erste dokumentierte zeitachsenorientierte Funktion |
Anfang des 11. Jhs. | • Guido von Arezzo: Erfindung der Notenschrift – eine weitere zeitachsenorientierte Funktion |
14. Jh. | • Mittelalter, insbesondere Nicole d'Oresme: graphische Darstellung zeitabhängiger Größen |
17. Jh. | • Isaac Newton: Fluxionen, Fluenten • Gottfried Wilhelm Leibniz, Jakob I Bernoulli: erstmalig das Wort „Funktion“ |
18. Jh. | • Johann I Bernoulli, Euler: Funktion „als analytischer Ausdruck“, d. h.: als „Term“ • Leonhard Euler: Funktion als „freihändig gezeichnete Kurve“ |
19. Jh. | • Joseph Fourier, Peter Gustav Lejeune Dirichlet [6], Dedekind: Funktion (Abbildung) als eindeutige Zuordnung (nicht mehr notwendig termdefiniert) • Guiseppe Peano, Charles Sanders Peirce, Ernst Schröder: Relation als Menge geordneter Paare |
Anfang des 20. Jhs. | • Felix Hausdorff (1914): Funktion als spezielle Relation |
seit Ende des 20. Jhs. | • ... die große Vielfalt ??? |
Mengentheoretische Definition
Funktionen haben viele Gesichter
Literatur
- Herget, Wilfried & Malitte, Eva & Richter, Karin [2000]: Funktionen haben viele Gesichter – auch im Unterricht! In: Flade, Lothar & Herget, Wilfried (Hrsg.): Mathematik lehren und lernen nach TIMSS – Anregungen für die Sekundarschulen. Berlin: Verlag Volk und Wissen, 2000, 115–124.
- Hischer, Horst [2012]: Grundlegende Begriffe der Mathematik: Entstehung und Entwicklung. Struktur – Funktion – Zahl. Wiesbaden: Springer Spektrum.
Anmerkungen
- ↑ In Anlehnung an die ausführliche Darstellung in [Hischer 2012, 127 ff.]
- ↑ [Hischer 2012, 129] mit Bezug auf den Artikel [Herget et al. 2000].
- ↑ Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung in [Hischer 2012, 130 ff.].
- ↑ Vgl. [Hischer 2012, Kapitel 1].
- ↑ Aus [Hischer 20912, 131].
- ↑ Aussprache: „Dirischle“ mit offenem „e“ wie in „Bett“, also: diʀiˈʃleː (nicht aber wie meist üblich „Dirikle“); Quelle: Meyers Konversationslexikon, 5. Band, Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut, 1895, S. 27; siehe dazu auch die begründenden Erläuterungen in [Hischer 2012, 149 ff.].
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