Vernetzen: Unterschied zwischen den Versionen

K
keine Bearbeitungszusammenfassung
[gesichtete Version][gesichtete Version]
KKeine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 1: Zeile 1:
<small><small>Verfasst von [[Horst Hischer]]</small></small>
<small><small>Verfasst von [[Horst Hischer]]</small></small>
==Vorbemerkung==
==Vorbemerkung==
Sowohl in der Presse als auch in der Wissenschaft wird bekanntlich gerne von „Vernetzen“ und „Vernetzung“ gesprochen und geschrieben – auch in der Didaktik der Mathematik. Insbesondere drängt sich bei der Lektüre der Fachliteratur und bei vielen Fachvorträgen der Eindruck auf, dass man, wenn dort von „Vernetzen“ die Rede ist, meist ohne jeden Qualitätsverlust stattdessen schlicht von „Verbinden“ sprechen kann. Nun steht aber „Verbinden“ durchaus in der Tradition von [http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Freudenthal Freudenthal], Wittenberg und [[Erich_Christian_Wittmann|E. Chr. Wittmann]], wenn diese nämlich einen ''beziehungshaltigen Unterricht'' fordern, oder wenn [[Hans-Joachim_Vollrath|Vollrath]] z. B. von „Verbindung“ als einer ''„methodischen Variante“'' spricht. <ref>[Vollrath 1976]</ref><br /> Der Terminus „Vernetzen“ wäre dann in Umkehrung von Matthäus 9, 17 nur „alter Wein in neuen Schläuchen“ – das klingt zwar gut, ist aber nach Fritz Erler „reziplikativ“: <ref>Fritz Erler, früherer Fraktionsvorsitzender der SPD im Deut­schen Bundestag, während einer Parlaments­sitzung im November 1965 in Anspielung auf schwam­mige Äußerungen des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard; vgl. Hamburger Abendblatt vom 30. 11. 1965. </ref><br />
Sowohl in der Presse als auch in der Wissenschaft wird gerne von „Vernetzen“ und „Vernetzung“ gesprochen und geschrieben – auch in der Didaktik der Mathematik. Allerdings drängt sich bei der Lektüre der Fachliteratur und bei vielen Fachvorträgen der Eindruck auf, dass man, wenn dort von „Vernetzen“ die Rede ist, meist ohne jeden Qualitätsverlust stattdessen schlicht von „Verbinden“ sprechen kann. Nun steht aber „Verbinden“ durchaus in der Tradition von [http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Freudenthal Freudenthal], Wittenberg und [[Erich_Christian_Wittmann|E. Chr. Wittmann]], wenn diese nämlich einen ''beziehungshaltigen Unterricht'' fordern, oder wenn [[Hans-Joachim_Vollrath|Vollrath]] z. B. von „Verbindung“ als einer ''„methodischen Variante“'' spricht. <ref>[Vollrath 1976]</ref><br /> Der Terminus „Vernetzen“ wäre dann in Umkehrung von Matthäus 9, 17 nur „alter Wein in neuen Schläuchen“ – das klingt zwar gut, ist aber nach Fritz Erler „reziplikativ“: <ref>Fritz Erler, früherer Fraktionsvorsitzender der SPD im Deut­schen Bundestag, während einer Parlaments­sitzung im November 1965 in Anspielung auf schwam­mige Äußerungen des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard; vgl. Hamburger Abendblatt vom 30. 11. 1965. </ref><br />
:: ''„Die undeutlichen Formen des Kanzlers sind sehr reziplikativ.“'' Ein aufmerksamer CDU-Abgeordneter rief dazwischen: ''„Was ist das?“''<br />
:: ''„Die undeutlichen Formen des Kanzlers sind sehr reziplikativ.“'' Ein aufmerksamer CDU-Abgeordneter rief dazwischen: ''„Was ist das?“''<br />
:: Erler: ''„Sie fragen, was das heißt, das heißt gar nichts, das spricht sich nur so schön.“''<br />
:: Erler: ''„Sie fragen, was das heißt, das heißt gar nichts, das spricht sich nur so schön.“''<br />
Zeile 10: Zeile 10:
Auf der Suche nach einer sinnvollen Definition von „Vernetzen“ im pädagogisch-didaktischen Kontext wird man beachten, dass dem „Vernetzen“ etymologisch das „Netz“ zugrunde liegt, dessen Bedeutung also zunächst zu klären ist. Es zeigt sich, dass zu einem „Netz“ im pädagogisch-didaktischen Kontext nicht nur dessen ''Bestandteile'' (Knoten und Kanten) gehören, sondern auch ''Benutzer'' (vor allem Schülerinnen und Schüler) und ''Betrachter'' (zunächst Lehrkräfte, aber auch Schülerinnen und Schüler), so dass sich ein solches „Netz“ als ein „System“ im systemtheoretischen Sinn erweist. Gleichwohl wird es im ersten Anlauf genügen, die mathematische Graphentheorie heranzuziehen, um zunächst die Struktur der „Bestandteile“ zu beschreiben, was zu besonderen als „Netzgraphen“ bezeichneten Graphen führt, bei denen jede Kante Teil einer ''Masche'' ist. Diese sehr strenge Forderung kann gelockert werden, indem man fordert, dass mindestens eine Kante Teil einer Masche ist, wodurch ein „Netzwerk“ gekennzeichnet ist, so dass also jedes Netzwerk ein Netzgraph ist, aber nicht umgekehrt. Damit kann man wichtige Erkenntnisse der sog. „Netzwerktheorie“ <ref>Hier ist insbesondere [http://www.santafe.edu/about/people/profile/Mark%20Newman Mark Newman] zu nennen, vgl. auch sein Buch [http://www.amazon.de/Networks-An-Introduction-Mark-Newman/dp/0199206651 [Newman 2010]]</ref> heranziehen, die sich seit etwa 1990 international beachtlich entwickelt hat, so z. B. insbesondere durch die Physik und die Soziologie. Dazu gehören dann unterschiedliche „Vernetzungsgradmaße“ bzw. „Netzwerkstatistiken“ (für Graphen) wie z. B. ''Clusterkoeffizient'', ''mittlerer Knotenabstand (charakteristische Weglänge)'', ''mittlerer Knotengrad''  und ''Durchmesser'', die auch im pädagogisch-didaktischen Kontext heranziehbar bzw. gar heranzuziehen sind. <ref>Vgl. [http://www.amazon.de/Networks-An-Introduction-Mark-Newman/dp/0199206651 [Newman 2010]] und die Übersichtsdarstellung in [http://www.horst.hischer.de/publikationen/buecher/2010-medien-netze/cover.htm [Hischer 2010]], s. o.</ref><br /><br />
Auf der Suche nach einer sinnvollen Definition von „Vernetzen“ im pädagogisch-didaktischen Kontext wird man beachten, dass dem „Vernetzen“ etymologisch das „Netz“ zugrunde liegt, dessen Bedeutung also zunächst zu klären ist. Es zeigt sich, dass zu einem „Netz“ im pädagogisch-didaktischen Kontext nicht nur dessen ''Bestandteile'' (Knoten und Kanten) gehören, sondern auch ''Benutzer'' (vor allem Schülerinnen und Schüler) und ''Betrachter'' (zunächst Lehrkräfte, aber auch Schülerinnen und Schüler), so dass sich ein solches „Netz“ als ein „System“ im systemtheoretischen Sinn erweist. Gleichwohl wird es im ersten Anlauf genügen, die mathematische Graphentheorie heranzuziehen, um zunächst die Struktur der „Bestandteile“ zu beschreiben, was zu besonderen als „Netzgraphen“ bezeichneten Graphen führt, bei denen jede Kante Teil einer ''Masche'' ist. Diese sehr strenge Forderung kann gelockert werden, indem man fordert, dass mindestens eine Kante Teil einer Masche ist, wodurch ein „Netzwerk“ gekennzeichnet ist, so dass also jedes Netzwerk ein Netzgraph ist, aber nicht umgekehrt. Damit kann man wichtige Erkenntnisse der sog. „Netzwerktheorie“ <ref>Hier ist insbesondere [http://www.santafe.edu/about/people/profile/Mark%20Newman Mark Newman] zu nennen, vgl. auch sein Buch [http://www.amazon.de/Networks-An-Introduction-Mark-Newman/dp/0199206651 [Newman 2010]]</ref> heranziehen, die sich seit etwa 1990 international beachtlich entwickelt hat, so z. B. insbesondere durch die Physik und die Soziologie. Dazu gehören dann unterschiedliche „Vernetzungsgradmaße“ bzw. „Netzwerkstatistiken“ (für Graphen) wie z. B. ''Clusterkoeffizient'', ''mittlerer Knotenabstand (charakteristische Weglänge)'', ''mittlerer Knotengrad''  und ''Durchmesser'', die auch im pädagogisch-didaktischen Kontext heranziehbar bzw. gar heranzuziehen sind. <ref>Vgl. [http://www.amazon.de/Networks-An-Introduction-Mark-Newman/dp/0199206651 [Newman 2010]] und die Übersichtsdarstellung in [http://www.horst.hischer.de/publikationen/buecher/2010-medien-netze/cover.htm [Hischer 2010]], s. o.</ref><br /><br />
Die graphentheoretische Beschreibung lässt sich nicht nur auf die erwähnten „Bestandteile“ anwenden, sondern auch z. B. auf die strukturierten „Benutzer“, die sich dann ggf. als ein ''bipartiter Graph'' beschreiben lassen, eine Kennzeichnung, die auch auf die heute immer wichtiger werdenden ''sozialen Netzwerke'' (nicht zu verwechseln mit einem „sozialen Netz“) zutrifft.<br/><br />
Die graphentheoretische Beschreibung lässt sich nicht nur auf die erwähnten „Bestandteile“ anwenden, sondern auch z. B. auf die strukturierten „Benutzer“, die sich dann ggf. als ein ''bipartiter Graph'' beschreiben lassen, eine Kennzeichnung, die auch auf die heute immer wichtiger werdenden ''sozialen Netzwerke'' (nicht zu verwechseln mit einem „sozialen Netz“) zutrifft.<br/><br />
Ferner werden sich die aus der Netzwerktheorie bekannten Effekte „Kleiner Welten“ bzw. „Small Worlds“ in Verbindung mit den sog. „Naben“ als pädagogisch-didaktisch bedeutsam erweisen. Solange jedoch mit „Vernetzung“ unreflektiert nur „Verbindung“ gemeint ist, wird man das ungemein reichhaltige mit „Vernetzung“ intendierbare pädagogisch-didaktische Potential für Erforschung und Entwicklung von Unterricht nicht erschließen (können).<br/>
Ferner werden sich die aus der Netzwerktheorie bekannten Effekte „Kleiner Welten“/„Small Worlds“ in Verbindung mit den sog. „Naben“ als pädagogisch-didaktisch bedeutsam erweisen. Solange jedoch mit „Vernetzung“ unreflektiert nur „Verbindung“ gemeint ist, wird man das ungemein reichhaltige mit „Vernetzung“ intendierbare pädagogisch-didaktische Potential für Erforschung und Entwicklung von Unterricht nicht erschließen (können).<br/>
Es sei ergänzt, dass dann auch erklärbar ist, was „Vernetzen“ bedeutet, dass man z. B. „vernetzendes Denken“ und „vernetztes Denken“ unterscheiden kann und dass sich Baumstrukturen als nicht vernetzt erweisen, sondern nur als ''zusammenhängend:'' Im Zustand ''idealer Vernetzung'' gibt es zwischen je zwei Knoten mindestens zwei verschiedene Verbindungen. Didaktisch ist das insofern bedeutsam, als dass sich damit ''Offenheit'' im Unterricht beschreiben lässt: Es gibt dann nicht nur einen Weg zum Ziel.
Es sei ergänzt, dass dann auch erklärbar ist, was „Vernetzen“ bedeutet, dass man z. B. „vernetzendes Denken“ und „vernetztes Denken“ unterscheiden kann und dass sich Baumstrukturen als nicht vernetzt erweisen, sondern nur als ''zusammenhängend:'' Im Zustand ''idealer Vernetzung'' gibt es zwischen je zwei Knoten mindestens zwei verschiedene Verbindungen. Didaktisch ist das insofern bedeutsam, als dass sich damit ''Offenheit'' im Unterricht beschreiben lässt: Es gibt dann nicht nur einen Weg zum Ziel.