Übersicht

Über eine sinnvolle (Be-)Deutung von „Allgemeinbildung“ ist im Zusammenhang mit „Bildung“ in der Pädagogik, Philosophie und Didaktik vor allem in den letzten 200 Jahren gerungen worden. Dabei wird leider im Alltag – vor allem in den Massenmedien — oft „Allgemeinbildung“ mit „Allgemeinwissen“ identifiziert und damit dann zugleich fälschlich „Bildung“ auf „Faktenwissen“ reduziert.
Sowohl in der (fachübergreifenden) Didaktik als auch – speziell bezüglich des Mathematikunterrichts – in der Didaktik der Mathematik sind in der zweiten Hälfte des 20. Jhts. bemerkenswerte Vorschläge zu einem zeitgemäßen Verständnis von „Allgemeinbildung“ entwickelt worden. Bei dem Mathematikunterricht geht es dabei um eine zweifache Positionierung bezüglich „Allgemeinbildung“: Welchen Beitrag vermag der Mathematikunterricht aus seinem Selbstverständnis heraus zur Entwicklung eines Verständnisses von „Allgemeinbildung“ zu leisten, und welche Aufgaben erwachsen dem Mathematikunterricht (wie auch anderen Fächern) daneben oder darüber hinaus aus einem fachübergreifenden Verständnis von „Allgemeinbildung“? Beide Prozesse sind miteinander verschränkt und als nicht abgeschlossen zu sehen.
Nachfolgend werden didaktische Modelle vorgestellt, die sich im Kontext von Bildung als Leitbegriff dem Ziel von Allgemeinbildung im Grundsatz bzw. im Rahmen einer Stellung des Mathematikunterrichts innerhalb von „Allgemeinbildung“ widmen.

Deutungen von „Allgemeinbildung“

Wolfgang Klafki [1]

Für Klafki zeigt sich ein zeitgemäßes Verständnis von Allgemeinbildung u. a. darin, dass Bildung als „Allgemeinbildung“ in dreifachem Sinn zu bestimmen sei, was er drei „Bedeutungsmomente von Allgemeinbildung“ nennt, an anderer Stelle auch „Dimensionen des Allgemeinbildungsbegriffs“:

Allgemeinbildung erweist sich als
o Bildung für alle,
o Bildung im Medium des Allgemeinen,
o Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten.

Das durch diese „drei Dimensionen“ angedeutete didaktische Modell Klafkis hat als sog. „Kompetenzmodell Klafkis“ Eingang in die Sekundärliteratur (und dann auch in die Bildungspolitik) gefunden – obwohl Klafki gar nicht von „Kompetenzen“ spricht, sondern von „Fähigkeiten“. [2]

Bildung für alle

Das ist für eine demokratisch verfasste Gesellschaftsordnung selbstverständlich und bedarf daher keiner Erläuterung.

Bildung im Medium des Allgemeinen

Klafki meint damit einen verbindlichen Kern dessen, das alle gemeinsam angeht. So schreibt er u. a. bezüglich „Bildung“:

Sie muß [...] einen verbindlichen Kern des Gemeinsamen haben und insofern Bildung im Medium des Allgemeinen sein; [...] Allgemeinbildung muss verstanden werden als Aneignung der die Menschen gemeinsam angehenden Frage- und Problemstellungen ihrer geschichtlich gewordenen Gegenwart und der sich abzeichnenden Zukunft [...].
Der Horizont, in dem dieses uns alle angehende Allgemeine bestimmt werden muß, [...] muß ein Welt-Horizont sein.

Statt „im Medium des Allgemeinen“ kann man auch „im Medium des allen Gemeinen“ sagen und damit Klafkis Intention erfassen.
Interessant ist, dass Klafki von „Bildung im Medium ...“ spricht. [3] Das „allen Gemeine“ – oder noch pointierter: das „alle gemeinsam Angehende“ – erscheint hier also als ein Medium und damit als eine vermittelnde Umgebung, oder noch genauer: als Umgebung für den erkennenden und lernenden Menschen, derer sich alle Angesprochenen bewusst werden müssen, um diese von Klafki so genannten „Frage- und Problemstellungen“ zu erfassen, für die er an späterer Stelle die Bezeichnung „Schlüsselprobleme“ wählt: [4]

Meine Kernthese lautet: Allgemeinbildung bedeutet [...], ein geschichtlich vermitteltes Bewußtsein von zentralen Problemen der Gegenwart und [...] von der Zukunft zu gewinnen, Einsicht in die Mitverantwortlichkeit aller angesichts solcher Probleme und Bereitschaft, an ihrer Bewältigung mitzuwirken. Abkürzend kann man von der Konzentration auf epochaltypische Schlüsselprobleme unserer Gegenwart und der vermutlichen Zukunft sprechen.

Für solche „epochaltypischen Schlüsselprobleme“ nennt er u. a. beispielhaft die „Friedensfrage“, das „Umweltproblem“, die „gesellschaftlich produzierte Ungleichheit“ und „Gefahren und Möglichkeiten der neuen Informations- und Kommunikationstechniken und -medien“. [5] Zugleich warnt er vor einer Verengung im Sinne von fixierten Themen und Lösungswegen: [6]

Mein Vorschlag, die Konzentration auf Schlüsselprobleme im umschriebenen Sinne als eines der inhaltlichen Zentren eines neuen Allgemeinbildungskonzepts anzuerkennen und die entsprechenden curricularen bzw. didaktischen Konsequenzen zu ziehen, setzt voraus, daß ein weitgehender Konsens über die gravierende Bedeutung solcher Schlüsselproblem diskursiv [...] erarbeitet werden kann, nicht aber, daß das auch hinsichtlich der Wege zur Lösung solcher Probleme von vornherein notwendig ist.

Und er ergänzt (a. a. O.):

[...] Zur bildenden Auseinandersetzung gehört zentral die – an exemplarischen Beispielen zu erarbeitende – Einsicht, daß und warum die Frage nach „Lösungen“ der großen Gegenwarts- und Zukunftsprobleme verschiedene Antworten ermöglicht [...].

Diese „unterschiedlichen Wege zur Lösung“ und die „verschiedenen Antworten auf die Frage nach Lösungen“ stehen in engem Zusammenhang mit „Offenheit“ im Unterricht und (damit) mit „Vernetzung“ im pädagogisch-didaktischen Kontext. Und so schreibt Klafki, dieses vertiefend: [7]

Schließlich nenne ich noch eine weitere Bereitschaft und Fähigkeit von übergreifender Bedeutung. Man kann sie als „vernetzendes Denken“ oder „Zusammenhangsdenken“ bezeichnen. [8]

Bildung in allen Grunddimensionen menschlicher Interessen und Fähigkeiten

Klafki beginnt seine Ausführungen hierzu wie folgt: [9]

So notwendig nämlich einerseits die Konzentration auf Schlüsselprobleme ist, sie führt andererseits doch auch die Gefahr von Fixierungen, Blickverengung, mangelnder Offenheit mit sich. Überdies ist jene Konzentration auf Schlüsselprobleme mit Anspannungen, Belastungen, Anforderungen [...] verbunden, die nicht zuletzt auch für junge Menschen zur Überforderung [...] werden könnten, wenn sie die Bildungsprozesse ausschließlich bestimmen würden.
Die Forderung nach Konzentration auf Schlüsselprobleme bedarf also der polaren Ergänzung durch eine Bildungsdimension, deren Inhalte und Lernformen [...] auf die Mehrdimensionalität menschlicher Aktivität und Rezeptivität abzielen [...].

Allgemeinbildung muss also auch vielseitige Bildung sein, damit die Schülerinnen und Schüler sich als Individuen mit eigenen Wünschen und Neigungen erfahren können: „Bildung“ stellt dann den Menschen als Individuum in den Vordergrund – einhergehend mit Schülerorientierung und flexibler, „offener“ Unterrichtsgestaltung. Das spricht aber keinesfalls gegen Unterrichtsziele bzw. Bildungsziele, die eine Orientierung pädagogischen Planens und Handelns ermöglichen und dafür nötig sind. Jedoch können „Bildungsstandards“ solche Offenheit und Individualität wohl kaum ansteuern – zumindest nicht von der Wortwahl her (nämlich der Kombination von Bildung und Standard – einem immanenten Widerspruch!).
Ein Plädoyer für „Offenheit“ ist folgender Ausspruch, der Oliver Cromwell (1599–1658) nachgesagt wird: [10]

Ein Mann kommt am weitesten, wenn er nicht weiß, wohin er geht.

Und die zur Offenheit konträre Position verdeutlicht Robert Mager, einer der Väter der „Lernziele“, wie folgt (a. a. O.): [11]

Wer nicht weiß, wohin er will, braucht sich nicht zu wundern, wenn er ganz woanders ankommt.


Hans Werner Heymann

(folgt)


Literatur

  • Heymann, Hans Werner [1996]: Allgemeinbildung und Mathematik. Studien zur Schulpädagogik und Didaktik, Bd. 13. Weinheim / Basel: Beltz.
  • Klafki, Wolfgang [2007]: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik – Zeitgemäße Allgemeinbildung und kritisch-kon­struk­tive Didaktik. Weinheim / Basel: Beltz (6., neu ausgestattete Auflage; 1. Auflage 1985).
  • Kron, Friedrich W. [2000]: Grundwissen Didaktik. München / Basel: Ernst Reinhardt Verlag (3. aktualisierte Auflage; 1. Aufl. 1993).
  • Wittenberg, Alexander Israel [1990}: Bildung und Mathematik. Stuttgart: Klett (2. Auflage; 1. Auflage 1963).

Anmerkungen

  1. Darstellung nach [Hischer 2010, 199 ff.].
  2. „Kompetenz“ bedeutet ursprünglich „Zuständigkeit“ oder „Befugnis“, hat aber in letzter Zeit auch die Bedeutung von „Sachverstand“ bzw. „Fähigkeit“ oder auch „Fertigkeit“ hinzugewonnen – als ob „Zuständigkeit“ stets mit „Sachverstand“ bzw. „Fähigkeit“ oder gar „Fertigkeit“ verbunden wäre (wenngleich dies wünschbar ist). (Nach [Hischer 2010, 8].)
  3. Vgl. die vielfältigen Bedeutungen von Medien in didaktischer Sicht, dazu auch die dort erwähnten Wendungen „im Medium von Kultur“, „im Medium von Moral“ und „im Medium der sozialen Interaktion“.
  4. [Klafki 2007, 56]; „Schlüsselprobleme“ dürfen nicht mit „Schlüsselqualifikationen“ verwechselt werden – denn die bezeichnen etwas ganz anderes!
  5. [Klafki 2007, 56–60]; weitere Erläuterungen zu Klafkis Konzept der Schlüsselprobleme bei [Hischer 2010, 201–204].
  6. [Klafki 2007, 61]
  7. [Klafki 207, 63]
  8. Man beachte, dass er „vernetzendes Denken“ und nicht etwas „vernetztes Denken“ schreibt.
  9. [Klafki 2007, 69]; siehe hierzu auch die kommentierende Darstellung bei [Hischer 2010, 205 f.].
  10. Zitiert in [Hischer 2010, 205].
  11. Vgl. hierzu auch die durch „Lernen als Leitbegriff“ gekennzeichneten „Didaktischen Modelle“.


Der Beitrag kann wie folgt zitiert werden:
Madipedia (2013): Allgemeinbildung. Version vom 23.07.2013. In: dev_madipedia. URL: http://dev.madipedia.de/index.php?title=Allgemeinbildung&oldid=11906.