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Die Entwicklung von Lösungsstrategien zu den additiven Grundaufgaben im Laufe des ersten Schuljahres
Michael Gaidoschik (2010): Die Entwicklung von Lösungsstrategien zu den additiven Grundaufgaben im Laufe des ersten Schuljahres. Dissertation, Universität Wien.
Begutachtet durch Günter Hanisch und Anna Susanne Steinweg.
Tag der mündlichen Prüfung: 07.05.2010.
Zusammenfassung
In einer Längsschnittstudie mit 139 niederösterreichischen Kindern aus 20 verschiedenen Volksschulen (zweistufige Zufallsauswahl) wurde untersucht, auf Grundlage welcher zahlbezogenen Kenntnisse und Fertigkeiten und mit welchen Rechenstrategien Kinder zu Beginn ihres ersten Schuljahres (t1) Additionen und Subtraktionen im Zahlenraum bis zehn lösen oder zu lösen versuchen und auf welche Weise sie diese Strategien (dann auch im Zahlenraum bis 20) zunächst bis zur Mitte (t2) und schließlich bis zum Ende des ersten Schuljahres (t3) weiterentwickeln. Die in qualitativen Interviews erfassten Strategien wurden ins Verhältnis gesetzt einerseits zur Didaktik und Methodik des arithmetischen Erstunterrichts, den diese Kinder im Laufe dieses Schuljahres erfahren haben, andererseits zum zahlbezogenen Wissen zu Schulbeginn, zur Geschlechtszugehörigkeit der Kinder und zum Bildungsgrad ihrer Eltern.
Die qualitative Inhaltsanalyse der im Unterricht der Kinder verwendeten Mathematik-Schulbücher wie auch die Angaben der Lehrkräfte dieser Kinder zur didaktisch-methodischen Gestaltung ihres Mathematikunterrichts liefern starke Hinweise dafür, dass im Unterricht (und dies weitgehend einheitlich in allen erfassten Klassen) gegen zentrale Empfehlungen der aktuellen Fachdidaktik zur Gestaltung des arithmetischen Erstunterrichts verstoßen wurde. Insbesondere erfolgte die Behandlung von zählenden Rechenstrategien nicht nur im Sinne eines "Aufgreifens von Vorkenntnissen". Zählendes Rechnen scheint vielmehr mehrheitlich zumindest bis zum Ende des ersten Schulhalbjahres gezielt geübt worden zu sein. Ableitungsstrategien wurden demgegenüber gar nicht oder allenfalls in fachdidaktisch unzureichender Weise und Gewichtung behandelt. Daneben wurde aber offenbar auch dem Auswendiglernen von additiven Grundaufgaben mehrheitlich wenig bis keine Beachtung gewidmet. Für die Bewältigung von Aufgaben mit Zehnerübergang wurde gemäß den Angaben der Lehrkräfte als einzige nicht-zählende Strategie das "Teilschrittverfahren" ("Zehnerstopp") erarbeitet, auch dies im deutlichen Widerspruch zu Empfehlungen der aktuellen Fachdidaktik.
Auf Grundlage dieses Unterrichts waren am Ende des ersten Schuljahres etwa 27 Prozent der Kinder auch noch im Zahlenraum bis zehn vorwiegend zählende Rechner, d.h.: Sie lösten mehr als zwei Drittel der nicht-trivialen Additionen und Subtraktionen in diesem Zahlenraum durch eine Zählstrategie. Nur etwa 35 Prozent der Kinder lösten mehr als zwei Drittel dieser Aufgaben durch Faktennutzung (Faktenabruf oder Ableitung). Aufgaben mit Zehnerübergang wurden (mit Ausnahme der von etwa 50 Prozent der Kinder auswendig gewussten Verdoppe-lung 6+6) von mehr als zwei Drittel der Kinder entweder gar nicht oder durch eine Zählstrategie bewältigt.
Der qualitativ-explorative Teil der Arbeit ist der Detailanalyse kindlicher Strategieentwick-lungen gewidmet, dabei vor allem den in bisher vorliegenden Entwicklungsstudien wenig untersuchten Ableitungsstrategien und deren konzeptuellen Grundlagen. Die Analyse mündet in der empirisch begründeten Bildung von sechs Typen von Strategie-Präferenzen am Ende des ersten Schuljahres. Zur Erklärung der für diese Typen jeweils charakteristischen Merkmalskonstellationen wird auf Grundlage der qualitativen Ergebnisse dieser Studie eine Theorie der Rechenstrategieentwicklung im Laufe des ersten Schuljahres formuliert.
Im quantitativen Teil der Arbeit konnten unter anderem die folgenden Effekte als statistisch signifikant abgesichert werden: Kinder lösen im gesamten Verlauf des ersten Schuljahres umso mehr additive Grundaufgaben im Zahlenraum bis zehn durch Fakten nutzende Strategien, je mehr strukturierte Zahldarstellungen sie zu Beginn des ersten Schuljahres quasi-simultan erfassen. Buben lösen einen höheren Anteil an additiven Grundaufgaben im Zahlenraum bis zehn durch Fakten nutzende Strategien als Mädchen. Kinder, die eine bestimmte additive Grundaufgabe Mitte des ersten Schuljahres durch eine Ableitungsstrategie gelöst haben, lösen dieselbe Aufgabe am Ende des ersten Schuljahres signifikant öfter durch Faktenabruf als Kinder, die diese Aufgabe Mitte des ersten Schuljahres durch Weiterzählen oder durch Finger-Teilzählen bzw. Alleszählen gelöst haben.
Die Diskussion der Ergebnisse mündet in einem Plädoyer für eine Fortbildungsoffensive mit dem Ziel, die didaktisch-methodische Qualität des Mathematikunterrichts im ersten Schuljahr in Österreich zu verbessern. Denn die durch die Signifikanzprüfungen abgesicherte Hypothese, dass jene Kinder, die mit geringem Zahlwissen in die Schule eintreten, ein erhöhtes Risiko dafür tragen, noch am Ende des ersten Schuljahres vorwiegend zählend zu rechnen, muss vor dem Hintergrund des oben charakterisierten Unterrichts gesehen werden.
Als Konsequenz für die Früherkennung sogenannter "Rechenschwächen" lässt sich aus der vorliegenden Studie ableiten, dass Kinder, die ohne gezielte Förderung nicht bereits Mitte des ersten Schuljahres Ableitungsstrategien entdeckt haben, dies – ohne gezielte Förderung – mit einiger Wahrscheinlichkeit auch in der zweiten Hälfte des Schuljahres nicht tun werden.
Als Konsequenz für die Gestaltung des arithmetischen Anfangsunterrichts liefert die Studie u.a. starke Hinweise dafür, dass sich eine gezielte Förderung im Nutzen von Ableitungsstrategien auch positiv auf die frühe Automatisierung der additiven Basisfakten auswirken dürfte.
Desiderate für künftige pädagogische Forschungsarbeiten bleiben einerseits Längsschnittstudien im mikrogenetischen Design zur Klärung offener Detailfragen der Strategieentwicklung, andererseits videobasierte Studien, welche die didaktisch-methodische Qualität des Unterrichts-geschehens mit höherer Verlässlichkeit und Genauigkeit zu erfassen versprechen, als es dieser Arbeit mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln möglich war.